Was Achtsamkeit mit Softwareentwicklung zu tun hat (1/8)


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Achtsamkeit ist in aller Munde. Es handelt sich dabei ganz knapp zusammengefasst um einen Zustand, in dem wir bewusst auf den gegenwärtigen Augenblick mit all seinen Facetten achten und unseren Gedanken und Gefühlen nicht erlauben, uns mitzureißen. Eine der knackigsten Beschreibungen für Achtsamkeit habe ich in Karsten Dusses Buch „Achtsam Morden“[i]https://www.penguinrandomhouse.de/Taschenbuch/Achtsam-morden/Karsten-Dusse/Heyne/e545722.rhd gelesen:

Wenn Sie vor einer Tür stehen und warten, stehen Sie vor einer Tür und warten. Wenn Sie sich mit Ihrer Frau streiten, streiten Sie sich mit Ihrer Frau. Das ist Achtsamkeit.

Wenn Sie vor einer Tür stehen und warten und die Wartezeit dazu nutzen, sich in Gedanken zusätzlich noch mit Ihrer Frau zu streiten – dann ist das nicht Achtsamkeit. Das ist einfach nur blöde.

Karsten Dusse

Es ist also nicht nur der temporäre mentale Zustand, zum Beispiel während einer Meditation, sondern eine Grundhaltung, alles was wir tun in voller Absicht und mit voller Aufmerksamkeit zu tun. Das klappt nicht, wenn man mehrere Dinge gleichzeitig tut.

Warum macht man das Ganze? Der häufigste Grund ist vermutlich, Stress abzubauen. Es kann auch helfen sich selbst und die eigenen Emotionen besser zu verstehen und Entscheidungen zu treffen, die zu dem passen was man selbst wirklich möchte (statt was man glaubt aus gesellschaftlichen Gründen tun zu müssen). Vermutlich gibt es so viele Gründe wie es Praktizierende gibt, weil jede:r eine eigene Bedeutung findet. Ich selbst beispielsweise bin auf Achtsamkeit aufmerksam geworden, weil ich mir im Homeoffice eine klare Grenze zwischen Arbeit und Freizeit gewünscht habe. Nachdem ich mein Macbook zuklappt, gönne ich mir eine 15-20 minütige Meditation, drücke damit gedanklich auf Reset und bin im Feierabend angekommen. Oftmals hilft mir das, Klarheit in Dinge zu bringen, die mich gestört haben ohne so recht zu wissen warum. Vor allem bewirkt es, dass ich diese Störfaktoren nicht mitnehme. Das ist ein praktischer Effekt, und ich werde zu einem späteren Zeitpunkt noch einen Beitrag über die Bedeutung von Routinen schreiben, aber es führt auch dazu, dass sich meine professionelle Haltung Problemen gegenüber geändert hat. Ich lasse mich weniger schnell überrollen, und gehe dadurch sachlicher vor. Suche die Ursache. Eine nützliche Eigenschaft in eigentlich jedem Beruf.

„Leichter gesagt als getan“, ist dein Eindruck? Das liegt vermutlich daran, dass es genau das auch ist. Achtsamkeit zu praktizieren ist nicht schwierig in dem Sinne, dass es kompliziert wäre. Man muss dafür nicht intelligent oder begabt sein. Aber es ist doch schwierig, ein Denkmuster, dass man Jahrzehnte lang verwendet und nicht hinterfragt hat, abzulösen. Das erfordert Geduld und Übung. Es passiert nicht von selbst und es ist auch nicht einfach.

Dies hier ist aber kein Blog über Achtsamkeit, zumindest nicht ausschließlich. Wer mehr über Achtsamkeit lernen will, dem empfehle ich:

Um den Bogen jetzt aber wieder zur Softwareentwicklung zu spannen, erlaube ich mir, das obige Zitat etwas zu paraphrasieren:

Wenn du einen Bug suchst, suchst du einen Bug. Wenn du in der Retrospektive-Videokonferenz sitzt und über den letzten Sprint reflektierst, sitzt du in der Retro und reflektierst. Das ist Achtsamkeit.

Wenn du die Redepause bei ausgeschalteter Kamera während der Retro nutzt, um noch mal eben schnell nach dem Bug zu schauen, zu dem deine Gedanken dauernd zurück kehren, ist das nicht Achtsamkeit. Das ist einfach nur blöde.

Vor allem ist es ineffektiv. Dieses Vorgehen führt dazu, dass ein wichtiger Beitrag zur Retro fehlt, und der Bug wird so auch nicht schneller gefunden. Die reine Kontaktzeit mit dem Programmcode ist nicht für die Qualität maßgebend. Man findet Bugs, außer sie sind ganz simpel, nicht durch Anstarren. Programmieren erfordert Konzentration. Der A14 Bionic haut 11.000.000.000 Operationen pro Sekunde raus[v]https://www.apple.com/newsroom/2020/09/apple-unveils-all-new-ipad-air-with-a14-bionic-apples-most-advanced-chip/ – wenn man ein solches Geschoss kontrollieren will, kann man ihm schon mal die ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. So viel Respekt hat die Technologie verdient. Die Kolleginnen und Kollegen im Meeting erst recht.

Achtsamkeit ist aber noch mehr als das Kanalisieren der Aufmerksamkeit. Nach Jon Kabat-Zinn, der weithin als Begründer der modernen Achtsamkeit zur Stress-Behandlung (MBSR)[vi]http://www.randomhousebooks.com/books/89149/ gilt, basiert Achtsamkeit auf dem Kultivieren folgender sieben Attitüden:

Die sieben Grundsteine der Achtsamkeit (eigene Darstellung)

Urteilsfreiheit, Geduld, Ansicht des Anfängers, Vertrauen, Nicht-Streben, Akzeptanz und Loslassen. Nicht alle davon sind selbsterklärend und auch bei denen, die es sind, ist vielleicht nicht offensichtlich, was das Ganze mit Softwareentwicklung zu tun hat. In den kommenden Wochen werde ich einzelne Artikel veröffentlichen, in denen ich zeige

  • was jeder dieser Punkte allgemein für Achtsamkeit bedeutet
  • wie ich das auf Softwareentwicklung beziehe
  • wie ich die Attitüde in meinen eigenen beruflichen Alltag einzubringen versuche

Hier geht es zu den einzelnen Attitüden:

  1. Urteilsfreiheit (Non-Judging)
  2. Geduld (Patience)
  3. Ansichten des Anfängers (Beginner’s Mind)
  4. Vertrauen (Trust)
  5. Nicht-Streben (Non-Striving) – TBA
  6. Akzeptanz (Acceptance) – TBA
  7. Loslassen (Letting Go) – TBA

Ich glaube, dass Softwareentwickler:innen sich mit Achtsamkeit schwer tun, weil es unser Beruf ist, Komplexität zu beherrschen. Es gibt aber weder Komplexität in der Achtsamkeit, noch gibt es etwas zu beherrschen. Außerdem sind wir von Natur aus Multitasker. Vielleicht weil die Plattformen, auf denen wir arbeiten es auch sind? Aber Multitasking funktioniert bei Menschen erwiesenermaßen nicht. Anstatt zwei Sachen gleichzeitig und dadurch schneller zu erledigen, wechseln wir zwischen zwei Aufgaben hin und her. Bei jedem Wechsel kommt es aber erneut zu einer Rüstzeit, was die Gesamtbearbeitungszeit verlängert (hierzu kann mein sich ein schönes Gantt-Diagramm vorstellen, vielleicht zeichne ich es später). Zudem schaffen wir es während der Bearbeitung einer Aufgabe nicht, uns gedanklich vollständig von der anderen zu lösen. Wir sind also beim Multitasking gedanklich an mehreren Orten gleichzeitig und schenken dadurch keiner der beiden Aufgaben die volle Aufmerksamkeit.

Aber genau deshalb ist Achtsamkeit in der Softwareentwicklung wichtig. Wir haben uns einen Beruf ausgesucht, in dem es viele Ursachen für Stress gibt[vii]https://www.dearemployee.de/top-5-stressfaktoren-fuer-softwareentwicklerinnen/. Wir beschäftigen uns mit etwas sehr abstraktem und unsere Arbeit findet fast ausschließlich im Kopf statt. Auch der braucht hin und wieder eine Auszeit. Wenn die eigene Zufriedenheit und Reduktion von arbeitsbedingtem Stress nicht als Argument für mehr Achtsamkeit im Berufsleben reicht, dann ist für High-Performer:innen vielleicht wenigstens attraktive, zugleich die Produktivität steigert.

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